Im September 2014 veröffentlichte das Netzwerk »Recht auf Stadt – Ruhr« die beiden Texte »Von Detroit lernen!« und »Realize Ruhrgebiet«. Darin wurden die Städte des Ruhrgebiets aufgefordert offensiv mit der Abwanderung umzugehen und Schrumpfungsprozesse als stadtpolitische Chance zu begreifen. Heute, zwei Jahre später, finden wir eine neue Situation vor. Der jahrzehntelang anhaltende Prozess der Schrumpfung scheint gestoppt und in einigen Städten gibt es tatsächlich einen Bevölkerungsanstieg. Doch die Bevölkerungsentwicklung bleibt widersprüchlich.
Wachstum? Schrumpfung?
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 sollte das Ruhrgebiet weiter schrumpfen, nicht zuletzt weil die Bevölkerung in NRW insgesamt abnehme und die Menschen eher ins Rheinland ziehen als ins strukturschwache Ruhrgebiet. Viele Städte melden nun eine gegenteilige Entwicklung. Dortmund wächst schon seit einigen Jahren wieder, in Bochum lebten 2015 3.900 Menschen mehr als 2014, in Essen stieg die Zahl der Einwohner*innen von 2015 bis 2016 um rund 9.000 auf 592.000, also auf fast 600.000. Gemessen an der Gesamtzahl der hier Lebenden sind das keine großen Zuwächse aber immerhin eine Kompensation der weiterhin stattfindenden Abwanderung und der Sterbeüberschüsse. Von den 9.000 neuen Bewohner*innen Essens stammen rund 5.000 aus Syrien. In Gelsenkirchen wird die Stagnation der Schrumpfung in erster Linie durch Zuwanderung aus den neuen EU-Ländern Rumänien und Bulgarien erreicht.
Armutsquartiere und Zuwanderung aus Südosteuropa
Setzt sich die Bevölkerungszunahme hauptsächlich aus südosteuropäischer „Armutszuwanderung“ und Geflüchteten zusammen, bleibt die Abwanderung qualifizierter Bevölkerungsgruppen bestehen. In dieser Konstellation setzt sich das alte Problem des Brain-Drain fort und das Problem der Armut multipliziert sich, weil die Zielorte der „Armutszuwanderung“ meist die Quartiere einer Stadt sind, in denen die Armut und der Anteil migrantischer Bewohner*innen durch innerstädtische Segregation ohnehin schon verdichtet sind: Duisburg-Hochfeld, Gelsenkirchen-Ückendorf oder die Dortmunder Nordstadt sind Beispiele dafür. Die räumliche Situation der Geflüchteten ist hingegen ein anderes Problem, auf das noch eingegangen werden soll.
In den migrantisch geprägten sogenannten „Armutsquartieren“ finden die Zuwanderer*innen soziale Kontakte und eine Infrastruktur vor, die ihnen das Ankommen erleichtern und ein Leben in einer spezifischen Ökonomie ermöglichen. Hierzu gehören nicht nur Call-Shops und Cafés als Treffpunkte oder der Arbeiterstrich als eine Art Marktplatz für Arbeitskräfte, sondern auch komplexe Systeme von Abhängigkeiten. Slumlords vermieten Wohnungen in Schrottimmobilien, deren überhöhte Mieten von den Bewohner*innen mit Hilfe falscher Arbeitsbescheinigungen als Aufstocker über Transferleistungen finanziert werden.
In dieser Armutsökonomie, in der sich einzelne durchaus bereichern, sieht ein Teil der deutschen Bevölkerung seine rassistischen Ressentiments gegenüber Eingewanderten aus Südosteuropa bestätigt. Die Alltagskultur und die ökonomischen Praktiken der Zugewanderten geraten auch mit den schon etablierten Migranten-Communitys in Konflikt.
Etwa ein Drittel der Eingewanderten aus Südosteuropa ist nach ca. einem Jahr an ihren Ankunftsorten nicht mehr auffindbar. Ob sie in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt oder weitergezogen sind, ist unklar. Die Schulen in den entsprechenden Sozialräumen sind oft ratlos, auch weil Schüler*innen immer wieder über längere Zeiträume fehlen und ihr Lernfortschritt nicht wirklich begleitet und bewertet werden kann.
Neuankommende folgen denjenigen, die wieder gegangen sind. Diese rotierende Form der Migration macht Integrationsangebote schwierig. Vielleicht können die Straßen oder einzelnen Häuser, in denen sich speziell südosteuropäische Migrant*innen ansiedeln, als temporäre Zonen besonderer Überlebenspraktiken beschrieben werden, die sich erst auflösen oder in die Stadtgesellschaft inkludieren, wenn den Menschen eine echte Alternative angeboten wird. Eher aber ist damit zu rechnen, dass die Menschen verschwinden, weil zukünftige Neuregelungen innerhalb der Europäischen Union sie von Freizügigkeit und Zugang zu sozialen Leistungen ausschließen. Anfang 2017 trat in Deutschland ein umstrittenes neues Gesetz in Kraft, dass arbeitssuchenden EU-Bürger*innen den Anspruch auf Hartz IV-Leistungen und Sozialhilfe verweigert. Von der Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Bürgerrechts sind wir weit entfernt.
Razzien und Herausforderungen
Der Umgang der Städte mit den Konflikten, die in Folge der „Armutseinwanderung“ entstehen, ist sehr unterschiedlich. In der Dortmunder Nordstadt hat, auch nach rassistisch motivierten Mobilisierungen gegen Straßenstrich und „Schrottimmobilien“, inzwischen ein Diskurswechsel stattgefunden: Das „Problem“ wurde zur „Herausforderung“. Tatsächlich sind in jüngster Zeit in Dortmund einige Hilfsangebote, insbesondere auch für Einwander*innen aus Südosteuropa entstanden. So nahm im Sommer 2016 z.B. die »Clearingstelle Gesundheit für EU-Zuwanderer« ihre Arbeit auf. In der Nordstadt kaufen inzwischen Immobilienbesitzer*innen „Problemhäuser“ in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer eigenen Immobilien auf, sanieren sie und vermieten neu.
Die Stadt Duisburg hingegen geht in erster Linie ordnungspolitisch gegen bewohnte „Schrottimmobilien“ vor. Sie erklärt die Gebäude für unbewohnbar und lässt sie vom Ordnungsamt mit Polizeiunterstützung von einem auf den anderen Tag räumen. Gelsenkirchen wiederum handelt mit einem Mix aus Unterstützung und Repression. Dem innovativen Konzept der mobilen Kindertagesstätten, die Angebote unmittelbar im Sozialraum organisieren, stehen Razzien von Ordnungsamt und Polizei an Treffpunkten oder in Wohnhäusern gegenüber. Im März 2017 führten Polizei, Zoll und Arbeitsagentur mit rund 150 Mitarbeiter*innen eine koordinierte Großrazzia zeitgleich in den Städten Duisburg, Gelsenkirchen und Dortmund durch. Sie fahndeten u.a. nach Scheinbeschäftigung und Sozialbetrug.
Sind die Städte des Ruhrgebiets tatsächlich mit der „Armutszuwanderung“ überfordert? Ihr Klagen über fehlende Ressourcen und die mangelnde Unterstützung mit Bundesmitteln ist durchaus berechtigt. Eine Debatte, die zugewanderte Menschen jedoch in erster Linie als „Problem“ wahrnimmt, bleibt im irrationalen rassistischen Diskurs gefangen, auch wenn die entstehenden Konflikte ganz real sind.
Geflüchtete als logistische Größe und neue Nachbarn
Die Ankunft von Geflüchtete aus den Kriegs- und Krisenregionen außerhalb Europas wurde von den Städten des Ruhrgebiets hingegen hauptsächlich als logistische Herausforderung angesehen und wurde an verschiedenen Orten von rassistisch motivierten Anwohner*innenprotesten gegen Flüchtlingsunterkünfte begleitet. In Stadtteilen mit besserverdienenden Bewohner*innen maskierte sich dieser Rassismus manchmal mit ökologischen und bürgerrechtlichen Argumenten. Zugleich und mehrheitlich dominierend entstanden jedoch vielfältige ehrenamtliche Netzwerke der Unterstützung, die teilweise bis heute bestehen. Bei der Organisation ganz handgreiflicher Unterstützung von Geflüchteten vor Ort öffneten sich Begegnungs- und Kommunikationsräume, in denen ein sozialer Überschuss entsteht, der positiv in den gesamten Stadtteil zurück wirkt. Alte und neue Nachbarn lernen sich kennen und beginnen mit einer zivilgesellschaftlichen Produktion des Gemeinsamen. Hier wurde beispielhaft deutlich, wie eine solidarische Stadt des Ankommens funktioniert.
Auf der Ebene der Institutionen wurde die logistische Herausforderung nicht immer menschlich beantwortet. Besonders die Stadt Bochum tat sich damit hervor, Geflüchtete in großer Zahl und für lange Zeiträume in provisorische Lager abzutrennen: in Turnhallen, Container- oder sogar Zeltlager. In Dortmund dagegen erhielten viel Geflüchtete reguläre Wohnungen. In Bochum stehen viele der mit Millionenbeträgen auf Dauer errichteten Lager inzwischen leer. Hier zeigt sich einmal mehr die Einfallslosigkeit von Politik und Verwaltung, auch in schwierigen Situationen kreative und nachhaltige Lösungen zu finden, wie z.B. die Aktivierung der zahlreichen Leerstände oder die temporäre Nutzung leerstehender Büroflächen als Wohnraum. In Bochum führte diese Politik der unmenschlichen Unterbringung zu zahlreichen Protesten von Geflüchteten und ihren Unterstützer*innen.
Die Rückkehr der Wohnungsfrage
Mit dem Ende der Schrumpfung kehrt die Wohnungsfrage zurück ins Ruhrgebiet. Angesichts der Abwanderungsbewegungen stellte sich in den letzten zehn Jahren eher die Frage, ob nicht ein gezielter Rückbau von Wohnungen sinnvoll sei. Demgegenüber stand und steht die Suche nach neuen Flächen für die Vermarktung des Versprechens des Einfamilienhausglücks, um die Abwanderung junger Familien aufzuhalten. Die Situation im Mietwohnungsbereich ändert sich jedoch gerade. Obwohl in vielen Städten des Ruhrgebiets immer noch hohe Leerstandsquoten vorhanden sind, gibt es eine große Nachfrage nach preisgünstigen Wohnungen, nicht nur bei Geflüchteten, sondern generell bei Menschen mit wenig Geld. In Bochum haben z.B. rund 50 Prozent aller Haushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung. Diese Bevölkerungsgruppen sind für einen Wohnungsmarkt, der an hohen Renditen interessiert ist, uninteressant. Auch die verbliebenen städtischen Wohnungsbaugesellschaften bauen lieber Miet- oder Eigentumswohnungen für Besserverdienende. Die im Ruhrgebiet traditionell großen Wohnungsbestände in öffentlicher Hand oder im Besitz der alten Montanunternehmen sind schon lange verkauft und gehören jetzt zum Fundus dividendenorientierter Wohnungsunternehmen. Ein sozialer Wohnungsbau ist kaum mehr vorhanden und jährlich verschwinden tausende Sozialwohnungen, weil ihre Belegungs- und Preisbindung ausläuft. Ohnehin ist das gescheiterte Modell des sozialen Wohnungsbaus immer nur eine öffentliche Subventionierung privaten Immobilienbesitzes gewesen mit dem Nebeneffekt einer temporären Mietpreisbindung.
Alte Ideologie und neue Demütigungen
Die Kommunen im Ruhrgebiet erkennen gerade, dass sie diese Entwicklungen verschlafen haben und handeln müssen. Doch die aktuelle Diskussion um des »Handlungskonzept Wohnen« der Stadt Bochum zeigt beispielhaft, dass die Lösungswege, die dabei eingeschlagen werden, den neoliberalen Ideologiepfad nicht verlassen: Es sollen neue privatwirtschaftliche Investoren gefunden werden. Die Entscheider*innen in Politik und Verwaltung wissen, dass Marktversagen durch marktkonforme Maßnahmen nicht zu lösen ist. Das bedeutet, dass diejenigen, die preisgünstigen Wohnraum nachfragen, als Zielgruppe ihrer Politik keine Rolle spielen. Im Umgang mit der aktuellen Wohnungsfrage setzen die sozialdemokratischen Rathäuser des Ruhrgebiets die soziale Demütigung, die mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze begann, konsequent fort. Die Bochumer Kampagne »Stadt für Alle« thematisiert die aktuelle Wohnungspolitik der Stadt Bochum und skandalisiert den Widerspruch zwischen Leerständen auf der einen Seite und dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum auf der anderen.
Um Wohnraum dauerhaft preisgebunden anbieten zu können, muss er dem Markt entzogen werden. Hier könnten die Kommunen selbst als Akteure auftreten und städtischen Wohnungsbau betreiben oder ihre Wohnungsbaugesellschaften auf gemeinnützige Ziele verpflichten. Dass es diese konkreten Alternativen gibt, zeigen Beispiele aus anderen Städten. Die Wohnbau Gießen GmbH ist z.B. ein kommunales Wohnungsunternehmen das sich explizit als sozialer Wohnraumversorger versteht und zu 100 Prozent der Stadt Gießen gehört.
Segregation reloaded
Mit dem neuen Wachstum der Städte und der damit verbundenen „Wohnungsfrage“ ist nun ein zentrales stadtpolitisches Thema der Recht-auf-Stadt-Bewegung im Ruhrgebiet angekommen, das hier bisher nur eine untergeordnete Rolle spielte. Und dennoch bleibt die Situation im Ruhrgebiet im Vergleich zu den tatsächlich boomenden Großstädten wie Köln, Hamburg oder München eine andere: Auch wenn die Mieten im Ruhrgebiet steigen, in Dortmund z.B. in den letzten drei Jahren um vier Prozent, und in bestimmten Stadtvierteln inzwischen Quadratmeterpreise von 9 Euro und mehr aufgerufen werden, liegen die Durchschnittsmieten zwischen Duisburg und Dortmund immer noch bei 5,50 Euro pro Quadratmeter.
Den auf niedrigem Niveau steigenden Mieten steht jedoch eine hohe Armutsquote und geringe Kaufkraft gegenüber. Das Ruhrgebiet bleibt arm. Für Menschen mit geringen Einkommen oder Bezieher*innen von Transferleistungen wird das Wohnungsangebot enger oder verlagert sich weiter in die Peripherie. Eine breite sozialräumliche Mietpreisdifferenzierung wird die Segregation im Ruhrgebiet vermutlich weiter vorantreiben.
BILD: BOCHUM ZENTRUM, KORTUMSTRASSE, MÄRZ 2017 (RNRM)