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Happy Birthday, Horrorhaus

Das Hochhaus an der Kielstraße 26 in Dortmund kennen viele nur als „Horrorhaus“. Vor 50 Jahren errichtet, steht es heute gleichermaßen als Symbol für die lange vernachlässigte Nordstadt wie für die Folgen blinder Immobilienspekulation. Schon viele Male wurde sein baldiger Abriss verkündet, jetzt naht er tatsächlich. Ein Geburtstagsgruß und ein Abschied.

von Alexandra Gehrhardt

Ein paar Spuren gibt es noch, die zeigen, dass hier mal Menschen gewohnt haben. An einem der Balkone hing vor kurzem noch eine alte Satellitenschüssel, ein langer Haken, der wahrscheinlich mal eine Wäscheleine gehalten hat, ragt noch aus der Wand. Auf der Freifläche vor dem Haus steht noch eine steinerne Tischtennisplatte.

Tischtennis wird hier wahrscheinlich nicht mehr oft gespielt, keine Schüssel überträgt noch ein Programm. Heute wird das Hochhaus „Horrorhaus“ genannt, die unteren Etagen sind vernagelt, damit niemand einsteigt. Die vielen Graffiti zeigen, dass das nur so halb funktioniert. Seit 17 Jahren steht das Haus leer, der Efeu auf der Rückseite ist bis in den sechsten Stock gewachsen. Nach 50 Jahren geht die Geschichte des Wohnturms in der Dortmunder Nordstadt langsam zu Ende.

Spekulation und Absturz

Rückblick: Mitte 1969 wird das Gebäude in der Kielstraße fertig, ein Punkthochhaus in Treppenform mit bis zu 18 Etagen, öffentlich gefördert und preisgebunden. 5,50 DM kostet der Quadratmeter im Monat, Eigentümerin ist die VEBA-Tochter Westfälische Wohnstätten, ein früher gemeinnütziges Wohnungsunternehmen des Werkswohnungsbau im Ruhrgebiet. VEBA wird später aufgelöst werden, seine Nachfolger werden Viterra, Deutsche Annington und 2019 Vonovia heißen.

Im Oktober 1992 die Schlagzeile in der Westfälischen Rundschau: „Wohnturm an Kielstraße wird verkauft“, mitten in der Wohnungskrise der frühen 90er Jahre, als allein in Dortmund 6.000 Menschen auf der Warteliste des Wohnungsamtes für eine neue Wohnung standen. „Dadurch drohen […] die Mieter von 102 Wohnungen zum Spielball von Miet-Spekulation zu werden“, war damals in der Lokalzeitung zu lesen, der Mieterverein warnte vor einem „regelrechten Absturz“ und drohender Zwangsverwaltung des schlecht instandgehaltenen Hauses.

Was dann kommt, kann man wohl getrost als Spekulation wie aus dem Lehrbuch bezeichnen. 1993 kauft ein Ehepaar das Hochhaus, zahlt die öffentlichen Fördermittel zurück, und verkauft es innerhalb weniger Wochen weiter, an eine GbR aus drei Geschäftsleuten in Heilbronn. Und weil Einzelteile mehr bringen als das Ganze, werden die 102 Wohnungen nun einzeln auf den Markt geworfen, bewohnt und mit noch zehn Jahre laufender Sozialbindung. 161.000 DM soll eine große Wohnung kosten, 90.000 DM eine kleine, insgesamt 11,4 Millionen DM. Viel mehr als sie wert sind. Der Brief des Mietervereins aus dem Jahr 1994 könnte auch von heute sein: „Ihre Vorstellungen von freier Marktwirtschaft, in der Sie jedes Ihrer Häuser verkaufen können, wann und an wen sie wollen, sind angesichts ihrer 102 Haushalten, die alles andere gebrauchen können als ein paar Glücksritter, die schnell absahnen wollen, […] gescheitert“, schrieb der damalige Mietervereinsvorsitzende an die VEBA.

Denn viele dieser Glücksritter kümmern sich nicht um die Kapitalanlage, die sie sich zugelegt haben. Modernisierungen fallen hinten über, nötige Reparaturen einfach aus. Je weniger Eigentümer die Kredite bedienen, Grundsteuern und Energiekosten zahlen, desto weiter gerät das Hochhaus in die Schieflage, mehr und mehr Menschen ziehen aus. 2001 steigt die Hausverwaltung aus, 2002 stellt der Energieversorger DEW die Lieferungen ein. Im November schließlich räumt die Stadt das ohnehin schon halbleere Haus.

Der doppelte Turm

17 Jahre ist das jetzt her. Seitdem stehen die 18 Etagen Leerstand nicht nur als Landmarke, sondern auch als Symbol für etwas, das seit einigen Jahren wieder heiß diskutiert wird: die Aufgabe des Staates beim Schutz zentraler Infrastruktur, und die Folgen der Spekulation mit Wohnraum. „Es ist total interessant, dass es genau den gleichen Turm nochmal gibt und beide zusammen klar machen, was privates und vergesellschaftetes Eigentum unterscheidet“, sagt Julian, der in der Dortmunder Nordstadt lebt und eigentlich anders heißt. Der Zwilling des Hochhauses wurde 1971 von der Dogewo gebaut und ist bis heute im Eigentum des städtischen Wohnungsunternehmens. Nach der Schließung des „Horrorhauses“ konnten einige MieterInnen dort einziehen. Ähnlich sieht es Julians Freund Frank: „Es steht als Symbol für eine spannende Debatte, auch da war ja lange die Frage, warum die Stadt nicht enteignet hat. Und es ist auch Symbol für die gesamte Nordstadt als vernachlässigtem Stadtteil.“

Zugleich ist ein gewisser Kult um den hohen Betonklotz entstanden – und eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihm. Daran haben Julian und Frank einen Anteil. Sie sind Teil des Druckkollektivs Unterdruck, das ein aus den 1980er Jahren in Japan entwickeltes Druckverfahren für sich entdeckt hat: Risographie. Ähnlich wie beim Siebdruck entstehen Bilder nicht als Ganzes, sondern Schicht für Schicht, über die jede Farbe einzeln aufgetragen wird. Risographen, von außen sehen sie aus wie Kopiergeräte, können 150 Blatt pro Minute drucken, was die Herstellung einfach und effizient macht. Das Verfahren setzt gewisse Bedingungen an die Bildkomposition, und erzeugt damit einen ganz eigenen, charakteristischen Stil.

Bastelbogen zum Abschied

Da bot das Horrorhaus sich an, sagt Julian: „Es hat eine total starke visuelle Wirkung und steht für sehr viel in diesem Viertel. Eigentlich ist es nur ein großer grauer Klotz, aber die Leute feiern es. Und mit den ganzen Graffiti ist es auch eine öffentliche Galerie.“ Frank ergänzt: „Es gibt eine verklärende Positiv- und eine starke Negativbeschreibung der Nordstadt. Und dazu gehört das, was man Horrorhaus nennt. Wir wollen die Schönheit im Negativen hervorholen.“

„Die Schönheit im Negativen hervorholen.“ Foto: Alexandra Gehrhardt

Und so hat Unterdruck das Horrorhaus digital nachgebildet und auf Papier gebracht, zuerst in kleinformatigen 2-D-Drucken, dann auch als Bastelbogen. „Eigentlich ist er ein Stückwerk aus verschiedenen Zeiten. In diesem Zustand, wie wir ihn abbilden, gab es ihn nie“, erklärt Julian. Die Arbeiten sind beliebt, die erste Auflage limitierter Drucke längst vergriffen. „Es gibt eine starke Identifikation, wir treffen ständig Menschen, die die in der Nordstadt groß geworden sind und eine Geschichte zum Haus erzählen können. Wir träumen ein bisschen davon, diese Geschichten irgendwann zu Papier zu bringen“, sagt Frank. „Und von einer Geburtstagsparty für das Horrorhaus.“

Ein Geburtstag, der auch ein Abschied sein wird: Als 2005 der Abriss des Leerstands beschlossen wurde, begann die Stadt damit, die KäuferInnen der 102 Wohnungen zu suchen, Besitzverhältnisse zu klären und das Haus Stück für Stück zurückzukaufen. Mittlerweile ist das komplett gelungen, 2021 soll der Abbruch beginnen, das Haus einer öffentlichen Nutzung Platz machen. Dann wird es ihn nur noch in Erinnerung geben, den großen grauen Klotz.

Der Text erschien im Juni 2019 im Straßenmagazin bodo.