Zum Inhalt springen

„Ihr glaubt mir nicht.“: ein Ort, viele Realitäten

Auszug eines Beitrags zur Situation in der Dortmunder Nordstadt [von Pia Blank, Robin Quader, Charlotte Rohde]

Vorbemerkung: In der letzten Ausgabe des onlinejournals kultur und geschlecht erschien ein lesenswerter Beitrag von Pia Blank, Robin Quader und Charlotte Rohde mit dem Titel „Ihr glaubt mir nicht.“: ein Ort, viele Realitäten. Die Autor*innen setzen sich darin mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten und Erfahrungswelten in der Dortmunder Nordstadt auseinander. Anlass bietet die Reflexion eines Vorfalls im Herbst letzten Jahres: Zwei Personen of Color wurden vor dem selbstverwalteten Treffpunkt Nordpol von der Polizeit kontrolliert, Unterstützer*innen intervenierten, es kam zu Verhaftungen. Die Autor*innen reflektieren die Sitiuation in der Nordstadt und dokumentieren durch Interviewpassagen zwei unterschiedliche Erfahrungen. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus dem Beitrag.


Der vorliegende Text ist der Versuch einer Auseinandersetzung mit dem rassistischen Ausnahmezustand in der Dortmunder Nordstadt. In der Nordstadt zu leben bedeutet, dass Erfahrungsmöglichkeiten radikal unterschiedlich sind. Abhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, vom Aussehen der Einzelnen, und von den gesprochenen Sprachen, hängt ab, welche Erfahrungen gemacht und nicht gemacht werden können, welche Leben gelebt und nicht gelebt werden können.

Schon die Perspektive, aus welcher ,wir‘ überhaupt diesen Versuch einer Auseinandersetzung anstrengen können, ist prekär. Denn wir schreiben aus weißer und feministischer Perspektive. Es ist uns nicht egal, welche Leben ermöglicht werden, und welche verunmöglicht, welche Geschichten erzählt werden, und von welchen niemand weiß. Gerade aufgrund dieser Differenzen wollen wir Erfahrungen zusammenzuführen, und vielleicht eine gewisse Sichtbarkeit schaffen, denn der Alltag in diesem Stadtteil ist immer schon von Formen der Unsichtbarmachung geprägt.

Die Nordstadt – ein Zuhause für Viele

In der Dortmunder Nordstadt zu leben heißt, mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu leben. Manchmal, und insbesondere in der medialen Berichterstattung, erscheint der Stadtteil als reines Krisengebiet, geprägt durch Elendsverwaltung. Manchmal, und insbesondere für uns, ist es der Ort, den wir, wie viele Andere, unser Zuhause nennen. Es ist ein Zuhause für Viele. Es gibt ein Nebeneinander an sozialen Lagen und Herkünften, Lebens- und Alltagsrealitäten. Die Nordstadt ist ein komplizierter Raum, dessen Regeln immer wieder neu verhandelt werden. Durch die Bahngleise vom Zentrum abgetrennt, haben sich hier seit seiner Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts Arbeitskräfte angesiedelt. Dieses Gebiet dokumentiert seither alle Migrationsbewegungen, denen das Ruhrgebiet seine Entstehungsgeschichte verdankt. Dennoch, vielmehr: gerade deswegen, bleiben viele Lebenswirklichkeiten für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar. Das liegt nicht zuletzt an Ignoranzen und Vorurteilen gegenüber einem Viertel, welches gezwungen ist, mit diversen und in sich höchst komplexen Problemlagen umzugehen. Es gibt also nicht die eine Realität, die gegeben ist, sondern sie ist von der jeweiligen Wahrnehmung und den individuellen Erfahrungen abhängig. Dadurch sind und werden die Bewohner_innen auf je andere Weise Adressat_innen spezifischer Sozial- und Ordnungspolitiken.

Das Gebiet der Nordstadt entsteht als ein Raum, der durch die unterschiedlichen Realitäten segregiert und immer wieder neu ausgehandelt wird. Wir wissen daher nicht immer genau, wo wir uns befinden. Im geographischen Zentrum der Nordstadt liegt die Münsterstraße, welche die zentrale Einkaufsstraße bildet. Abhängig von Jahres- und Tageszeit entsteht der Raum immer wieder aufs Neue: Die Münsterstraße ist Milieu von Einkaufenden, Obdachlosen, spielenden Kindern, von Drogendealern, von Arabischsprechenden, Französischsprechenden, Türkischsprechenden, Deutschsprechenden, uns unbekannte Sprachen Sprechenden, von Frauen oder von Männern, Alkoholtrinkenden, Drogenkonsumierenden, von Deutschen oder Ausländer_innen, oder Ausweispapierlosen, Studierenden, Sozialarbeiter_innen, Arbeitnehmer_innen. Und von Polizist_innen, Beamt_innen und Ordnungshüter_innen. Am Rande dieser Fußgängerzone findet sich das Ladenkollektiv Nordpol.

[…]

Zeug_innenschaften: Das Privileg, weggehen zu können

Wir sind Weiße. Wir sind EU-Staatsbürgerinnen. Wir sind Frauen, und wir sind politisch Aktive. Wir sind öfter damit konfrontiert, nicht als ‚Anwohner_innen‘ – geschweige denn ‚Nachbar_innen‘ – wahrgenommen zu werden. Unsere Interessen stehen im Verdacht, auf Kosten der sozialen Prekarisierung zu gehen. Manche werfen uns vor, wir seien eben nur „auf Urlaub in der Gosse“. Wir wüssten nichts vom Leben unter prekären Bedingungen.

Aber wir sind mindestens Zeuginnen dessen, was vor unserer Haustür und in unserem Lebensumfeld passiert. Wir finden es wichtig, mit geschärftem Blick auf unsere (eigene) Lebensrealität zu schauen. Wenn die ‚Mehrheitsgesellschaft‘ – also jene weiße Mittelschicht, die das Privileg hat, weggehen zu können, wenn es zu kompliziert wird – auf Kosten solcher Realitäten wie jener der Nordstadt sich reproduziert, dann sind wir daran beteiligt. Unsere Positionen entwickeln sich nicht nur oder nicht hauptsächlich aus persönlichen Erfahrungen, sondern durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der wir leben. In einem Stadtteil wie der Nordstadt bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung. Unweit der Münsterstraße wurde Mehmet Kubaşık vom sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ in seinem Kiosk erschossen. Seit einiger Zeit fragen wir uns im Prinzip alltäglich, wie wir mit Rassismus umgehen können, oder müssen.

Die Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 2017

In der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 2017 kontrollierte die Polizei schwarze junge Männer in unmittelbarer Nähe des Nordpols. Zur Einordnung: Teile der Nordstadt sind, den Sicherheitsbehörden zur Folge ‚kriminogene Orte‘. Mit dieser Markierung schafft sich die Polizei weitreichende Befugnisse zur angeblichen ‚Gefahrenabwehr‘ und die Legitimationsgrundlage für ‚verdachtsunabhängige Kontrollen‘. Fast täglich finden unter anderem auf der Münsterstraße, vor dem Nordpol, rassistische Polizeikontrollen statt. Infolge der besagten Kontrolle ist es – so unvorhergesehen wie konsequent – zu einer Eskalation gekommen. Einige Gäste des Ladens reagierten wie gewohnt: Sie ließen die Kontrolle schwarzer Menschen nicht unkommentiert. Sie fragten nach einer Begründung für die Kontrolle und handelten vor dem beschriebenen Erfahrungshintergrund. Sie versuchen durch schiere Zeug_innenschaft außerdem unrechtmäßiges und gewalttätiges Verhalten von Polizist_innen zu verhindern. An diesem Abend ermittelte die Polizei jedoch aufgrund eines konkreten Tatverdachts gegen einen – wie sie es formuliert – „Schwarzafrikaner“. Die Situation eskalierte dann, als die Polizei aufgrund der Anwesenheit der Zeug_innen Verstärkung rief. Ein Hund ohne Maulkorb wurde auf die Anwesenden losgelassen. Die Folge des Abends waren fünf Ingewahrsamnahmen von Weißen mit den Vorwürfen der Beleidigung, des Landfriedensbruchs, des Verdachts auf Widerstand und Gefangenenbefreiung. Eine Person musste mit Hundebissen im Krankenhaus behandelt werden. Ausnahmsweise wurden an diesem Abend keine Schwarzen festgenommen. Die Konstruktion von ‚Gefahrengebieten‘ richtet sich zunehmend auch gegen Linke.

Die Suche nach Antworten

Unsererseits im Anschluss ist es schwierig und strittig, eine adäquate Antwort, oder überhaupt eine Stimme zu finden. Eine ausbleibende Positionierung bleibt nicht ohne Folgen. Die folgenden Gespräche sind Dokumente des Versuchs, mit der Situation umzugehen.

Wie die folgenden beiden Gespräche zeigen, sind wir alle ungefähr aus der gleichen Generation, und wir sind alle Zugezogene. Aber wir wissen kaum etwas voneinander.

Die beiden Gespräche, die wir getrennt voneinander geführt haben, dokumentieren daher zwei verschiedene Perspektiven: eine weiße und eine schwarze Perspektive.

Warum wohnst du in der Nordstadt? Warum bleibst du hier?

A: Ich bin im Dortmunder Süden aufgewachsen und zwischendurch habe ich in einer anderen Stadt gewohnt. Als ich zurück nach Dortmund bin, bin ich in die Nordstadt gezogen. Ich hatte nicht viel Kohle und in der Nordstadt gab es günstigen Wohnraum. Das war ausschlaggebend. Ich habe eine super WG gefunden, die hält mich hier. Und es hat sich auch einiges verändert in den letzten Jahren. Es gibt viele neue Orte und Kneipen, wo ich mich aufhalte – Rekorder, Nordpol. Aber auch meine Freund_innen wohnen hier. Dennoch ist mein Verhältnis zur Nordstadt super ambivalent. Ich frage mich manchmal schon, warum ich noch hier lebe. Ich finde es ekelig, Probleme zu romantisieren. Und in der Nordstadt gibt es viele Probleme. Wenn man sich diesen stellt, ist das schon krass. Aber irgendwie hält mich die deprimierende Realität. Moralisch muss man schon auf die Nordstadt klar kommen können, und es erfordert viel Empathie das Handeln mancher Leute zu verstehen. 

Städtische Pushprojekte nerven mich. Wir (meine Mitbewohner_innen und ich) diskutieren das Projekt Schöne Versteckte Orte. Es ist klar wohin das führen wird… Der Stadtteil soll attraktiv für Studis gemacht werden. Ich war letzte Woche bei einer Ausstellung Infinite Space, das ist direkt am Nordmarkt in einem ehemaligen Kiosk. Da waren dann Leute, die nicht aus der Nordstadt kommen. Sie waren total aufgeregt mal hier zu sein. Ich habe auch nix gegen Aufwertung allgemein, aber Verdrängung ohne Alternativen geht gar nicht. Und so Kampagnen wie Echt Nordstadt oder Nordwärts zielen auf Verdrängung ab. Das hat man damals auch an der Schließung des Straßenstrichs gut sehen können. Leider.

B: Als ich vor 3 Jahren, mit 16 Jahren, nach Deutschland kam, bin ich direkt nach Dortmund gekommen. Ein Freund hat mir früher immer erzählt, wie toll Hamburg ist. Ich habe dann ein Visum bekommen, und bin nach Dortmund. Zuerst habe ich in Hörde gewohnt. Da konnte ich nicht bleiben, und mein Betreuer hat mir dann geholfen, eine Wohnung zu finden. Die war eben in der Nordstadt. Ich will hier nicht wohnen. Wegen der Polizei. Sonst habe ich keine Probleme, also mit anderen Leuten nicht. Ich habe keine Zeit mir eine andere Wohnung zu suchen. Ich arbeite jeden Tag 8 Stunden und danach bin ich zu müde. Und ich muss viel lernen für meine Prüfungen. Ich muss die Ausbildung schaffen. Danach kann ich endlich weg! Ich verpisse mich von hier – wegen den Cops.

Kannst du dich in der Nordstadt bewegen, wie du willst?

B: Nein. Ich wohne in der Nordstadt, aber ich habe keine Lust hier zu wohnen. Woanders wäre es anders, besser, glaube ich. Ich würde lieber in Huckarde oder Hörde wohnen. In der Nordstadt treffe ich jeden Tag die Polizei. Ich drehe mich schon um, wenn ich den einen Cop sehe. Wenn er mich sieht, ruft er mir hinterher. Er lässt mich nicht in Ruhe. Ich mache gar nichts, und er lässt mich nicht in Ruhe. Wenn er mich sieht, egal wo, kommt er zu mir. „Warum hast du eine Lederjacke? War die nicht teuer? Warum trägst du so teure Schuhe? Du riechst so gut, ist das ein teures Parfüm? Du bist ein Dealer, darum hast du soviel Geld!“. So redet er mit mir. Und ich mache nix. Sie [die Cops, Anm. d. Autorinnen] schmeißen uns alle in einen Topf. Sie denken, wir sind alle Dealer und Verbrecher. Wenn wir gleich zusammen raus auf die Straße gehen würden und wir Cops träfen, dann würdet ihr sehen, wie die Cops mich anschauen. Das ist nicht normal.

A: Ich habe eigentlich keine Probleme in der Nordstadt. Ich kann überall hingehen, wo ich will und ich werde auch nicht von der Polizei kontrolliert im Alltag. Einmal war wieder eine große Polizeikontrolle auf der Münsterstraße, eine Razzia in einem Restaurant, und ich wurde nicht kontrolliert. Ich habe darauf bestanden, dass die Polizei auch meinen Ausweis kontrolliert. Aber von allein hätten sie das nicht gemacht. Auch wenn ich ‚semi-migrantisch‘ bin. Meine Mutter kommt aus dem Nahen Osten. Ich bin ja, wie gesagt, im Dortmunder Süden aufgewachsen. Da hatte ich als Jugendlicher öfters Probleme mit der Polizei als in der Nordstadt. Sie nehmen mich hier nicht als ‚nicht-deutsch’ wahr.

Den gesamten Beitrag lesen (PDF)