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Echos aus der Zukunft

Die Entdeckung der Nachkriegsarchitektur im Ruhrgebiet und wie vor 30 Jahren einmal das Fernsehprogramm gehackt wurde.

Im Ruhrgebiet wird gerade die Architektur der Nachkriegsmoderne entdeckt. Unter den Titeln »Big Beautiful Buildings. Als die Zukunft gebaut wurde« und »Modern gedacht! Symbole der Nachkriegsarchitektur« stellen die Formate Ausstellung, Konferenz, Rundgang und Magazin Bauwerke der 1950er bis 1970er Jahre vor. Zum Beispiel das Musiktheater in Gelsenkirchen oder die Bochumer Ruhr-Universität. Gerade im vom Krieg stark zerstörten Ruhrgebiet hat die Nachkriegsmoderne beim Wiederaufbau ihre Spuren hinterlassen. Aufbruch und Experiment sind die zentralen Schlagworte, unter denen die baulichen Konzepte erkundet werden. Das von StadtBauKultur NRW, dem Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW (M:AI) und der TU Dortmund zusammengestellte Programm richtet den Blick auf Stadtlandschaften im Ruhrgebiet, die wir täglich durchqueren, aber selten als besonderen architektonischen Raum wahrnehmen.

Dass die Zukunft, die da gebaut wurde, so neu nicht war und viele der städtebaulichen Konzepte auch schon in ihrer Zeit mehr als fragwürdig erschienen, wird bisher nicht thematisiert. Die autogerechte Stadt war eines dieser Konzepte – obwohl in den 1950er Jahren die wenigsten ein Auto besaßen. Und so frästen die Stadtplaner*innen Straßen und Erschließungsachsen durch die zerbombten Städte und betrieben Kahlschlagsanierungen. Hier realisierten Architekten ihre Ideen, die sie schon ab 1943 im „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“ unter Leitung von Albert Speer als „Modernisierung“ Deutschlands geplant hatten. Kritiker*innen sprechen von der „zweiten Zerstörung Deutschlands“. Die nationalsozialistische Kontinuität zeigte sich nicht in der Formensprache der Nachkriegsarchitektur, sondern vielmehr in der Rücksichtslosigkeit, mit der das „Alte“ durch das „Neue“ ersetzt wurde.

Ein anderes städtebauliches Leitbild, das schon in der „Moderne“ der 1920er Jahre erdacht wurde, gelangte durch die Westintegration von den USA aus wieder zurück ins Nachkriegseuropa – die Neuordnung des städtischen Raums in Form einer Funktionstrennung von Arbeiten, Wohnen, Bildung, Konsum und Freizeit. So entstanden Hochhaussiedlungen, Bildungs- und Einkaufszentren, Hochschulen, Revierparks und neue Fußballstadien. Die ungebremsten Wachstumserwartungen in dieser Zeit fanden ihren Ausdruck in der oft brutalistischen „Bigness“ dieser Architektur.

Die architektonischen Visionen, die in den 1950er bis 1970er Jahren realisiert wurden, sind widersprüchlich. Den interessanten baulichen Experimenten, in denen versucht wurde, Transparenz, Begegnung oder soziales Wohnen zu organisieren, standen Strategien der Kontrolle gegenüber – die Gestaltung von klar definierten Räumen, die ein erwartbares Verhalten hervorbringen sollten. Architektur wurde hier zu Sozialtechnik.

Heute, in der Zeit von Verkehrskollaps, Dieselgate und Klimawandel, schauen wir neidisch auf die fahrradoptimierte Verkehrsstruktur skandinavischer Großstädte. Und als besonders lebendiger urbaner Raum gelten heute die Orte, an denen produzieren, wohnen und genießen gleichzeitig stattfindet. Die Orte, an denen sich die „kreative Klasse“ zuhause fühlt. An die Stelle der fordistischen Massenkultur ist die individualisierte Selbstoptimierung getreten.

Der „Barkenberg-Hack“

Im Dorstener Stadtteil Wulfen-Barkenberg entstand „auf der grünen Wiese“ in den 1960er Jahren eine dieser großen Wohnsiedlungen nach den Vorstellungen des modernen Städtebaus mit mehreren achtgeschossigen Hochhäusern. Ursprünglich als »Neue Stadt Wulfen« für 60.000 Einwohner*innen geplant, sollte sie die zukünftigen Arbeitskräfte des nach Norden wandernden Bergbaus aufnehmen. Daraus wurde nichts. Auf der Anfang der 1960er Jahre neu abgeteuften Zeche Wulfen arbeiteten nie mehr als 450 Menschen. Die »Neue Stadt Wulfen« wurde nicht realisiert und der Ausbau der Siedlung eingestellt. Die Bevölkerungsabwanderung führte zu Verwahrlosung und Leerständen. Mit dem Abriss der »Metastadt« – eines experimentellen Gebäudekomplexes, der nach nur zwölf Jahren Nutzung aufgrund von Baumängeln unbewohnbar wurde – begann schon 1987 der Rückbau von Wohneinheiten und Infrastruktur. Heute leben in Wulfen-Barkenberg noch rund 8.000 Menschen.

1986 fand in Wulfen-Barkenberg ein ganz besonderes Ereignis statt. Kurz vor der Liveübertragung eines der großen Tennis-Finale mit Boris Becker wechselte plötzlich das Fernsehprogramm und zeigte anstelle der Heute-Nachrichten eine durch die Frontscheibe gefilmte Autofahrt durch die leeren Straßen Barkenbergs sowie Bilder von der auf ihren Abriss wartenden »Metastadt«. Zum Soundtrack der Piratensendung gehörte u. a. der Titel »Atlantic City« von Bruce Springsteen, in dem er über diese sterbende Stadt in New Jersey singt. Der feuchte Traum eines jeden Hackers, einmal das Fernsehprogramm zu manipulieren – hier wurde er Wirklichkeit, und das im analogen Zeitalter. In der Siedlung Wulfen-Barkenberg gab es schon in den 1970er Jahren Kabelfernsehen, das zwar von einer zentralen Antennenanlage empfangen, dann jedoch über Kabel ins Netz der Siedlung eingespeist wurde. Jemand hatte sich den Zutritt zu dieser Verteilerstation verschafft und einfach einen Videorecorder angeschlossen. Nach quälenden 15 Minuten war der Spuk vorbei und der Videorecorder wieder verschwunden. Zum Schluss versprach noch eine vermummte Person mit verzerrter Stimme die Wiederkehr des »Asozialen Fernsehens – AnSoc TV«. Eine eher harmlose Drohung. Schließlich verkünden unzählige Filmbösewichte auf den von ihnen gekaperten Bildschirmen immer mindestens die Übernahme der Weltherrschaft.

Für alle Beteiligten blieb der „Barkenberg-Hack“ ohne Folgen. Auch wenn es später in der Siedlung ein offenes Geheimnis war, wer hinter der Aktion gesteckt hatte. Die Protagonist*innen des „Barkenberg-Hacks“ wohnten gerne in ihrer Trabantenstadt. Sie empfanden das Leben dort nicht als „seelenlos“ oder „monoton“ – Begriffe, mit denen bereits Anfang der 1960er Jahre das Konzept der Großsiedlungen kritisiert wurde. Jedoch konnte das Versprechen von Wachstum und Wohlstand nicht eingehalten werden. Die zunehmenden Leerstände wurden mit Empfänger*innen von Transferleistungen und Zuwander*innen aus Osteuropa gefüllt. Diese Segregation setzte eine soziale Dynamik in Gang, die Konflikte auslöste und die Abwanderung anderer Bewohner*innen beschleunigte. Im Rückblick erscheint der „Barkenberg-Hack“ nicht nur als genialer Spaß, sondern auch als pointierter Kommentar einiger Bewohner*innen zum Scheitern der gebauten Zukunft, die man für sie vorgesehen hatte.


Die Ausstellung »Modern gedacht! Symbole der Nachkriegsarchitektur« des Museums für Architektur und Ingenieurkunst NRW (M:AI) zeigt vom 31. Oktober bis zum 16. November 2018 herausragende Bauwerke der 1950er bis 1970er Jahre im Technischen Rathaus Bochum.

ILLUSTRATION: OKTOBER 2018 (RNRM)