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„Geht nicht gibt’s nicht!“ – Das Bochumer Netzwerk „Stadt für Alle“

Seit Oktober 2016 mischt sich das Netzwerk „Stadt für Alle“ in die Lokalpolitik Bochums ein. Das Themenfeld Wohnen stand dabei bisher im Fokus. Ausgestattet mit wenigen Ressourcen und changierend zwischen harter Realpolitik und utopischem Überschuss, gelang es dem Netzwerk nicht nur, lokalpolitische Akzente zu setzen, sondern auch, als politischer Player ernst genommen zu werden.

Den Finger in die Wunde legen

Unter dem Motto „Hier könnte… eine Stadt für alle sein“ meldete sich das Netzwerk „Stadt für Alle“ im Oktober 2016 zum ersten Mal zu Wort. Im Rahmen einer Demonstration zum Thema Wohnen, Leerstand und solidarische Stadt besuchte und kennzeichnete das Netzwerk vier leerstehende Gebäude in der Bochumer Innenstadt. Die Beteiligung am Rundgang fiel mit etwa 60 Teilnehmer*innen eher bescheiden aus. Trotzdem erregte er im provinziellen Bochum viel Aufmerksamkeit und weckte ein großes mediales Interesse, nicht zuletzt weil er seinen Fokus exakt auf den Widerspruch zwischen den Leerständen auf der einen Seite und dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum auf der anderen legte.

Auch wenn die Wohnungssituation im Ruhrgebiet mit den stark überlasteten Wohnungsmärkten in Städten wie Köln, Hamburg oder München nicht zu vergleichen ist, gibt es dennoch einen größer werdenden Mangel an preiswertem Wohnraum. Das Ruhrgebiet liegt mit einer Armutsquote von über 20 % an der Spitze der Bundesrepublik. Dem fehlenden preiswerten Wohnraum stehen Leerstände gegenüber, die jedoch nicht zur Nutzung verfügbar sind. Besonders durch die Ankunft von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016, die noch heute in großer Zahl in Containerlagern und anderen „Sammelunterkünften“ leben müssen, wurde Wohnraum auch in Bochum zu einem Thema.

Neben seinen drei zentralen Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum, Wohnungen statt Sammelunterkünften für Geflüchtete und der Öffnung von Leerständen für soziale Projekte forderte das Netzwerk „Stadt für Alle“ auch eine kommunale Zweckentfremdungssatzung. Eine solche Satzung ist ein verwaltungspolitisches Instrument, das einen länger als drei Monate dauernden Leerstand von Wohnungen genehmigungspflichtig und sanktionierbar macht. Sie dient dazu, leerstehende Wohnungen wieder auf den Wohnungsmarkt zu bringen.

Der Auftakt von „Stadt für Alle“, die Forderungen und das Sichtbarmachen von Leerständen, bezog sich damit präzise auf die wohnungspolitische Situation in Bochum. Er enthielt sowohl allgemeine Richtungsforderungen als auch Vorschläge für ganz konkrete, unmittelbar zu realisierende Maßnahmen, wie die Einführung einer Zweckentfremdungssatzung oder den Umbau von leerstehenden Büroetagen in Apartments für Studierende und alleinstehende Geflüchtete. Dieser Mix aus Realpolitik und konkreten Utopien wurde für die weiteren Interventionen des Netzwerks charakteristisch.

Gut vernetzt und produktiv durch Vielfalt

Das Netzwerk „Stadt für Alle“ wurde von einer kleinen Gruppe als Projekt initiiert. Inspiriert von der internationalen „Recht auf Stadt“-Bewegung und der Diskussion um die Bedeutung von Commons fand die Gruppe mit einem strategischen Fokus auf Wohnungspolitik ein Aktionsfeld, auf dem sie in Kooperation mit anderen Partner*innen lokalpolitisch aktiv werden konnte. Das Netzwerk wurde und wird im Wesentlichen getragen von Aktiven aus folgenden Gruppen und Institutionen: der Gründungsgruppe, der Gruppe „Glitzer und Krawall“, dem Mieterverein Bochum und der Ratsfraktion der Linkspartei sowie von den Unterstützer*innen der Hausbesetzung „SquatBo“. Dazu kommen interessierte Einzelpersonen. Es gibt Kontakt zu Gruppen und Organisationen aus der Flüchtlings- und Obdachlosenarbeit, zu den örtlichen Gewerkschaften, zur Szene der Stadtplaner*innen, mit der Ruhr-Universität, der VHS und soziokulturellen Zentren.

Die Zusammensetzung des Netzwerks und seine Verknüpfung mit der Stadtgesellschaft sind ungewöhnlich. Bochum ist mit 370.000 Einwohner*innen zwar eine Großstadt, die politischen Strukturen sind jedoch eher kleinstädtisch. Die Wege sind kurz, persönliche Kontakte und gewachsene Verbindungen über politische Grenzen hinweg spielen eine wichtige Rolle. Aus der heterogenen Zusammensetzung von „Stadt für Alle“ ergibt sich eine produktive Vielfalt von Positionen und Erfahrungen. Sie ist zugleich die Voraussetzung für die Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Handlungsformaten – nicht nur im Inneren des Netzwerks, sondern auch bei der Kooperation mit anderen Akteur*innen von außen.

Radikale Realpolitik in den Institutionen und auf der Straße

Nach einer satirischen Aktion zur Eröffnung des umstrittenen Musikzentrums, einer Art „Bochumer Elbphilharmonie“, konzentrierte sich „Stadt für Alle“ Anfang 2017 auf die Durchsetzung einer Zweckentfremdungssatzung und eine Intervention in der Debatte um das „Handlungskonzept Wohnen“. Im „Handlungskonzept Wohnen“ sollte die zukünftige wohnungspolitische Strategie der Stadt Bochum festgelegt werden. Schon im Erstellungsprozess unter Beteiligung der Ratsfraktionen, der Wohnungswirtschaft und des Mietervereins, moderiert von der Beratungsagentur Empirica, wurde deutlich, dass die unternehmerische Stadt Bochum in erster Linie auf privatwirtschaftliche Investor*innen setzt.

„Stadt für Alle“ kritisierte diese neoliberale Strategie sowie die Ignoranz gegenüber der Wohnsituation von Geflüchteten und forderte u. a. einen gemeinwohlorientierten kommunalen Wohnungsbau. Im Februar 2017 veröffentlichte das Netzwerk ein erstes Positionspapier dazu. Im April folgte eine Veranstaltung in Kooperation mit der VHS, in der zwei konkrete Alternativen vorgestellt wurden: das Projekt „Our House OM10“ in Göttingen, das aus einer Hausbesetzung hervorgegangen war, und die gemeinwohlorientierte, zu 100 % städtische Wohnungsbaugesellschaft „Wohnbau Gießen GmbH“. In dieser Veranstaltung mit dem Titel „Geht nicht gibt’s nicht!“ saßen eine Hausbesetzerin und der Geschäftsführer einer Wohnungsbaugesellschaft gemeinsam auf dem Podium und berichteten, wie mit dem Thema Leerstand und Wohnen auch ganz anders umgegangen werden kann. Hier wurde der radikal realpolitische Ansatz von „Stadt für Alle“ inhaltlich besonders deutlich.

Zugleich lud sich „Stadt für Alle“ selbst zum Beratungsprozess innerhalb des „Handlungskonzepts Wohnen“ ein und nahm fortan neben der Immobilienwirtschaft und den Parteien an den Workshops teil. Die Stadt akzeptierte diese Selbsteinladung des Netzwerks. Eine andere Entscheidung hätte dem Partizipationsversprechen der Stadt widersprochen und ihr politisch geschadet. Obwohl sich die Aktiven des Netzwerks darüber bewusst waren, wie wenig Einflussmöglichkeiten sie hatten, gelang es zusammen mit dem Mieterverein und der Ratsfraktion der Linkspartei dennoch, Kritik zu organisieren und alternative wohnungspolitische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, darunter eine Zweckentfremdungssatzung. Hatten Mieterverein und Linkspartei in der Vergangenheit immer wieder erfolglos eine Zweckentfremdungssatzung ins Spiel gebracht, erschien sie jetzt auf der Tagesordnung der Politik und in der öffentlichen Wahrnehmung.

Zuspitzungen und Synergien

Um der Forderung nach einer Zweckentfremdungssatzung mehr Nachdruck zu verleihen und die Kritik am „Handlungskonzept Wohnen“ in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, organisierte das Netzwerk im Mai 2017 unter dem Motto „Reclaim the City! – Her mit der Stadt!“ eine Tanz-Demo. Parallel dazu bereitete die Gruppe „SquatBo“ eine Hausbesetzung am Tag der Demo vor. Die Hausbesetzung wurde ein großer Erfolg. Sie dauerte über einen Monat und erfuhr viel Zustimmung in der Stadt. „Stadt für Alle“ organisierte Support und Beratung und die Besetzer*innen bezogen sich auf die von „Stadt für Alle“ initiierte Debatte zum Thema Wohnen und Nutzung von Leerständen.

Die Besetzer*innen von „SquatBo“ richteten wie beabsichtigt erneut den Fokus auf das Problem Leerstände und landeten damit einen Volltreffer. Die Forderung nach Einführung einer Zweckentfremdungssatzung erhielt eine neue Dynamik und konnte nun von den regierenden grünen und sozialdemokratischen Ratsfraktionen nicht mehr ignoriert werden. Noch vor der Sommerpause erteilte der Rat der Stadt auf Antrag der Linkspartei der Verwaltung den Auftrag, eine Zweckentfremdungssatzung zu erarbeiten.

Unter dem Motto „Leerstand nutzbar machen – Zweckentfremdungssatzung jetzt!“ warb das Netzwerk mit Aktionen, Stellungnahmen und Informationen im Vorfeld der Beratung und Abstimmung für die Zweckentfremdungssatzung. Aktive des Netzwerks besuchten Ausschusssitzungen und Bezirksvertretungen. Sie drangen in die formalen politischen Strukturen der Kommune ein und meldeten sich auch unaufgefordert zu Wort. Das Bochumer „Bündnis Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (DGB, Kulturinstitutionen und Sozialverbände) unterstützte die Forderung und die meisten Bezirksvertretungen stimmten für die Satzung.

In der entscheidenden Ratssitzung im September stimmte die SPD dann zusammen mit der CDU-Opposition und gegen die Stimmen ihres grünen Koalitionspartners gegen die Zweckentfremdungssatzung. Mit der Arroganz der Macht entzog sich die SPD-Fraktion dem Handlungsdruck, der mit der Einführung einer Zweckentfremdungssatzung für die Stadt entstanden wäre. Mit ihrer Ablehnung eilten die Bochumer Sozialdemokrat*innen wohnungspolitisch der neuen NRW-Landesregierung voraus. Die Koalition aus CDU und FDP hat angekündigt, die Möglichkeit einer kommunalen Zweckentfremdungsverordnung aus dem Wohnungsaufsichtsgesetz des Landes zu streichen.

Auch das „Handlungskonzept Wohnen“ wurde im November in seiner unverändert neoliberalen Ausrichtung verabschiedet. In einer Stellungnahme und mit einer Grundsteinlegung für eine Stadt für alle kritisierte das Netzwerk vor der Abstimmung noch einmal das undemokratische Beteiligungsverfahren und beklagte, dass noch immer Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation von Geflüchteten fehlten.

Mit Überraschungen intervenieren

Auch wenn sich das Netzwerk „Stadt für Alle“ mit seinen Forderungen und Vorschlägen nicht durchsetzten konnte, hat es die teilweise turbulente wohnungspolitische Debatte in Bochum 2017 wesentlich mitbestimmt. Dass die Auseinandersetzung um ein verwaltungstechnisches Regulationsinstrument wie die Zweckentfremdungssatzung politisch so aufgeladen war, zeigt, dass in Aushandlungsprozessen auch hinsichtlich kleiner Strukturveränderungen grundsätzliche Fragen thematisiert werden: Versteht sich die Stadt als Unternehmen oder Gemeinwesen? Wie ist das Verhältnis zwischen privat und öffentlich? Wofür werden Ressourcen eingesetzt? In welche Richtung soll eine Stadtgesellschaft entwickelt werden? Wie können Demokratie und Partizipation funktionieren? Was bedeutet Eigentum?

Die Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung in Bochum sind es nicht gewohnt, auf ihrem eigenen Terrain – in Sitzungen, Ausschüssen oder bei Podiumsdiskussionen – mit externen Kritiker*innen konfrontiert zu sein, die auch noch über Sachverstand verfügen und konkrete Alternativen vorschlagen. Das Eindringen von „Stadt für Alle“ in ihre Strukturen und Formate hat sie verunsichert.

Aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb des Netzwerks ergaben sich fruchtbare Synergien. Die Ratsfraktion der Linkspartei organisierte Informationen aus Rat und Verwaltung. Der Mieterverein stellte Detailwissen und Expertise zur Verfügung. Textarbeit in Form von Stellungnahmen und Presseerklärungen wurde mit aktionistischen Elementen zur Produktion von Bildern und Aufmerksamkeit kombiniert. Dieser Informationsaustausch, die gegenseitige Bezugnahme und die unterschiedlichen Handlungsformate des Netzwerks erzeugten Auftritte, die in der Öffentlichkeit oft überraschten: jugendliche Hausbesetzer*innen, die kompetent mit Zahlen und Fakten argumentieren, oder ein Mieterverein, der sein Büro verlässt und bei Aktionen auf der Straße präsent ist.

In der Bochumer Innenstadt sind in den nächsten Jahren umfangreiche Abrisse und Neubauprojekte geplant, darunter hochpreisiger Wohnungsbau. Die Intervention in diesem Planungsprozess könnte für das Netzwerk „Stadt für Alle“ im Jahr 2018 ein neues Handlungsfeld werden.

Die Website von »Stadt für Alle«: www.stadt-fuer-alle-bochum.net

ILLUSTRATION: JANUAR 2018 (RNRM)


Workshop auf dem Recht auf Stadt Forum in Leipzig

Das Netzwerk »Stadt für Alle« wird beim 4. bundesweiten Recht auf Stadt Forum vom 20.–22. April 2018 in Leipzig, gemeinsam mit anderen Aktiven, einen Workshop zum Austausch und zur Bewertung der gemachten Erfahrungen anbieten.