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Der Mythos der sozialen Durchmischung

Kaum ein Begriff ist in der stadtpolitischen Diskussion so positiv besetzt und zugleich so unhinterfragt wie die soziale Durchmischung. Wenn die Konzentration sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen in einem Stadtteil oder Quartier als Problem wahrgenommen wird, empfiehlt sich die soziale Durchmischung dieses Stadtraums, die Verhinderung von Segregation, als positive Strategie. Doch die positiven Effekte, die von einer sozialen Durchmischung erwartet werden sind empirisch nicht nachweisbar und nach ihnen wird auch selten gefragt.

Das Ruhrgebiet ist in Folge des Strukturwandels als fortschreitende De-Industrialisierung gekennzeichnet von einer hohen verfestigten Arbeitslosigkeit und einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen, die sich in bestimmten Stadtvierteln verdichten. Bekannt ist das extreme Nord-Süd-Gefälle in Essen mit seinem „reichen“ Süden und „armen“ Norden. Auch die Dortmunder Nordstadt wird immer wieder als Beispiel für ein „Armutsquatier“ genannt. Segregation in Form verdichteter Armut findet im Ruhrgebiet tatsächlich statt – wenn auch regional sehr unterschiedlich und weit entfernt von offenen Verslummungstendenzen oder sogenannten „No-go-Areas“, die von Politiker*innen oder Medien manchmal herbei fantasiert werden.

Thematisiert wird meistens nur die unfreiwillige Segregation der unteren Bildungs- und Einkommensgruppen und nicht die freiwillige Segregation der obere Mittelschichten: Die Konzentration von Armut wirke sich negativ auf die Bewohnerschaft aus. Durch den fehlenden Kontakt zu sozial erfolgreichen Haushalten und damit dem Fehlen von positive Rollenbildern, würde sich eine „Kultur der Armut“ etablieren und zusammen mit infrastrukturellen Defiziten und Stigmatisierungsprozessen allein durch den Wohnort, eine Abwärtsspirale in Gang setzen.

Doch eine „soziale Durchmischung“ kann keine sozialen Probleme lösen! Verschiedene Studien kommen zu dem Schluss, dass sich an individuellen Notlagen und Benachteiligungen durch eine bessere soziale Mischung in einem Stadtteil nichts ändert. Die Teilhabemöglichkeiten von Menschen sind nicht abhängig von einer sozialräumlichen Bevölkerungsstruktur sondern vom Zugang zu Bildung, Arbeit und Einkommen, Wohnen, Freizeitmöglichkeiten und Mobilität. Räumliche Faktoren erklären keine sozialen Phänomene. Das physische Nebeneinander unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen lässt nicht zwangsläufig positive soziale Beziehungen und Integration entstehen. Im Gegenteil grenzen sich ressourcenstarke Haushalte in gemischten Quartieren von anderen Bewohnergruppen eher aktiv ab und nutzen Infrastrukturen außerhalb des Quartiers. Wenn es einen „Standortfaktor“ gibt, der etwas über die realen Chancen einer sozialen Mobilität aussagt, ist es vielleicht in erster Linie die Qualität der Kindertagesstätten und Schulen eines Stadtteils. Welche Kinder aus welchen Milieus sich dort aber tatsächlich begegnen und gemeinsam lernen, ist wieder eine ganz andere Frage.

Das beliebteste Instrument für die Herstellung einer besseren sozialen Mischung ist die Steuerung des Wohnungsmarktes durch Sanierungen und Neubau. Die Schweizer Studie »Soziale Mischung und Quartierentwicklung: Anspruch versus Machbarkeit« sagt hierzu:

„Es gibt keine Hinweise, dass mit einer besseren sozialen Mischung die sozioökonomische Situation der Betroffenen verbessert wird. Vielmehr sind die sozial Benachteiligten oft die Verlierer in Aufwertungsprozessen, indem der Anstieg der Mieten die Armutsgefahr verstärkt und funktionierende Nachbarschafts- und soziale Netze zerstört werden. Gewinner sind eher die sozioökonomisch Bessergestellten, indem ihre Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt durch zentrumsnahe Wohnungen, gezeichnet durch einen hohen Wohnstandard und ein ‹urbanes Flair›, erweitert werden.“

Im Ruhrgebiet mit seinen teilweise stark segregierten Vierteln ist ein differenzierter Blick auf solche Aufwertungsprozesse notwendig. Aufwertung muss nicht immer Verdrängung bedeuten und Armutsquartiere haben nichts romantisches. So hat z.B. aktuell in der Dortmunder Nordstadt die AWO zwei sogenannte „Problemimmobilien“ gekauft und saniert, um sie als preisgünstigen Wohnraum für den Stadtteil zu erhalten.

In den meisten Fällen geht es jedoch darum, mit Immobilien Renditen zu erwirtschaften. In der wohnungspolitischen Diskussion in Bochum wird z.B. von Politik, Verwaltung und Wohnungswirtschaft argumentiert, in der Stadt fehle es insbesondere an höherwertigen Wohnraum und dieser sei wichtig, um eine gute soziale Durchmischung zu erhalten. Selbstverständlich gibt es im Ruhrgebiet nicht nur arme Haushalte. Ein Markt für hochpreisige Wohnungen ist auch hier vorhanden. Der Verweis auf die angeblich positiven Effekte einer sozialen Durchmischung soll an dieser Stelle den städtischen Focus auf Wohnangebote für Bessergestellte legitimieren. Hier wird die Rede von der sozialen Durchmischung nicht nur als unhinterfragte positive Tatsache gesetzt sondern tatsächlich zum politischen Kampfbegriff, um renditenorientierte Investor*innen willkommen zu heißen und Kritiker*innen zurück zu weisen.

Die lesenswerte Schweizer Studie »Soziale Mischung und Quartierentwicklung: Anspruch versus Machbarkeit« [Projets urbains (Hrsg.), Bern 2011] kann hier heruntergeladen werden.

BILD: STENCIL DES GRAFFITIKÜNSTLERS TORE RINKVELD (EVOL) IM RAHMEN DER BRUTALISMUS-AUSSTELLUNG DES HMKV AM DORTMUNDER U, APRIL 2017 (RNRM)